1001kindernacht®
Die bindungsorientierte Schlafberatung

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September 2024

Hürden in der Schlafentwicklung

Es gibt in der Literatur verschiedene Modelle, die sich mit den Hürden in der (Schlaf)Entwicklung der frühen Kindheit befassen. Ich möchte zwei solcher Modelle hier vorstellen und aus Sicht von 1001kindernacht® Stellung beziehen.

1. Die "Schlafregression"

Unter dem Stichwort "Schlafregression" finden sich im Internet zahlreiche Beiträge, die die Tatsache, dass Babys oder Kleinkinder zeitweise "schlechter" schlafen und ihre Eltern nachts häufiger wecken, durch bestimmte Phasen zu erklären versuchen. Leider wird meist keine fachliche Quelle genannt, wodurch nicht nachvollziehbar ist, worauf sich die Autor/innen beziehen.

Laut dieser Theorie gibt es in den ersten zwei Jahren fünf "Regressionen", in denen Kinder auf einmal schlechter ein- und durchschlafen: Mit 4, 8, 12, 18 und 24 Monaten. Die erste Regression dauert zwei bis vier, alle anderen vier bis sechs Wochen. Als Ursache für die sogenannten Rückschritte wird erklärt, dass das Gehirn des Kindes auf Hochtouren laufe und mentale sowie physiologische Veränderungen verarbeiten müsse. Weil das Kind dadurch weniger tief schlafe, werde es häufiger wach und sei aufgrund des Schlafmangels tagsüber unzufrieden. Genauer heißt es:
• Bei der 4-Monats-Schlafregression wacht ein Baby, das vorher bereits fünf oder sechs Stunden geschlafen hat, alle eineinhalb Stunden auf. In dieser Zeit lernt das Kind, sich vom Bauch auf den Rücken und wieder zurück zu drehen.
• Bei der 8-Monats-Schlafregression unterscheidet das Kind zwischen Menschen, Tieren und Objekten und teilt die Welt in Kategorien ein. Motorisch lernt es das Krabbeln.
• Bei der 12-Monats-Schlafregression lernt ein Kind Zusammenhänge zu erstellen. Es kann sich mittlerweile hochziehen und erste Schritte machen.
• Bei der 18-Monats-Schlafregression erkennt ein Kind sich selbst und betrachtet seine Bindungspersonen als eigenständiges Wesen. Zudem entwickelt es einen eigenen Willen. In dieser Phase gibt es erste Albträume.
• Bei der 24-Monats-Schlafregression ist ein Kind motorisch "fertig" entwickelt und strebt eine grosse Selbständigkeit an, die zu Trennungsängsten führen kann.

Beim Suchen nach der fachlichen Quelle zum Thema "Schlafregression" stosse ich auf den niederländischen Verhaltensbiologen Franz Plooij, der zusammen mit seiner Frau Hetty van de Rijt das Buch "Oje, ich wachse" geschrieben hat. Gemeinsam beobachteten sie in Tansania bei Jane Goodall das Verhalten von Schimpansenbabys und -müttern, wobei sie das Auftreten verschiedener Regressionsphasen erkannten. Diese "Entdeckung" übertrug Plooij auf die Entwicklung des Menschenkindes und definierte 10 solcher Phasen in den ersten 20 Lebensmonaten. Dabei geht es laut Plooij keineswegs nur um das Schlafen, sondern um Phasen, in denen grosse Veränderungen beim Kind und auch in der Interaktion mit seiner Umwelt auftreten, die auf drastische Umstrukturierung des Gehirns zurückzuführen seien. Nach einer Regressionsphase, die oft auch von einer akuten Erkrankung begleitet sei, beherrsche das Kind neue Fähigkeiten.

2. Das Touchpoint-Modell

Der Kinderarzt T. Berry Brazelton hat das Konzept der sogenannten "Touchpoints" entwickelt.  Touchpoints sind kritische, vorhersehbare Meilensteine in der kindlichen Entwicklung, die zu einer Störung des Familiensystems führen können. Brazelton und Sparrow haben in den ersten drei Lebensjahren 13 solcher Meilensteine definiert.(1)  Im ersten Lebensjahr gibt es laut Brazelton vier Touchpoints, die sich auf den Schlaf auswirken und zu schwierigeren Nächten führen; und zwar mit 4, 8, 10 und 12 Monaten.
Touchpoints sind Phasen, in denen das Verhalten des Kindes in Bezug auf seine Ernährung, seinen Schlaf, seine Ausscheidung oder anderes für seine Eltern sehr herausfordernd sein kann. Das Wissen um diese Meilensteine und Strategien für den Umgang damit können dazu beitragen, negative Situationen und Stress zu vermeiden. Bei frühgeborenen Kindern treten diese Phasen erwartungsgemäss später auf. Das Ziel des Touchpoint-Modells ist es, sowohl Eltern als auch Fachleuten einen Orientierungsrahmen zu bieten und nicht, Vergleiche unter Kindern zu machen oder die Entwicklung zu pauschalisieren. Brazelton betont ganz klar, dass die Eltern Experten für ihr Kind sind. Da viele Eltern irritiert sind, wenn ihr Kind z.Bsp. nachts plötzlich wieder mehr nach ihnen ruft, kann es entlastend sein zu wissen, dass eine solche Hürde zu erwarten war. Sie müssen dann nicht an sich selbst und ihren Fähigkeiten zweifeln oder sich Sorgen machen, das sich ihr Kind anormal entwickle, sondern können die Phase möglichst gelassen begleiten. Der Fokus liegt nicht auf den Problemen, sondern auf dem, was bereits erreicht wurde und auf der weiteren Entwicklung, die dadurch begünstigt wird.

Foto: www.pexels.com

Das Touchpoint-Modell passt zur Erkenntnis von 1001kindernacht®: Auch wir haben festgestellt, dass gleichzeitig mit der Fremdenangstphase um die 8 Monate und auch mit 10 Monaten die familiäre Belastung oftmals sehr gross ist und viele Eltern in die Schlafberatung kommen, da sie sehr verunsichert sind. Die Kinder brauchen auf einmal mehr Begleitung beim Einschlafen und/oder erwachen nachts mehrmals, oftmals auch schreiend. Zu erfahren, dass in diesem Alter schwierigere Nächte zu erwarten sind, dass die Eltern nichts falsch gemacht haben und vor allem, dass es bald wieder besser läuft, ist meistens eine enorme Erleichterung. Auch zwischen dem zweiten und dritten Geburtstag erleben wir noch einmal eine sehr herausfordernde Zeit, die mit dem Höhepunkt der Trennungsangst zusammenfällt. Kinder, die schon alleine geschlafen haben, rufen plötzlich wieder nach den Eltern oder suchen nachts eigenhändig das Elternschlafzimmer auf.(2)  

Der Name 1001kindernacht® bezieht sich auf die ersten 3 Jahre (3x 365 Tage/ Nächte), in denen die (Schlaf)Entwicklung wellenförmig abläuft: Phasen, in denen Kinder "gut"(3) oder sogar durchschlafen, wechseln sich ab mit Phasen, in denen Kinder bis zu stündlich wach werden und die Unterstützung der Eltern vermehrt einfordern.

Inwiefern Modelle, die die kindliche Entwicklungsschritte genau vorhersagen wollen, für Eltern hilfreich sind, ist zu hinterfragen. Ein kleines Kind überwindet ja fast ständig irgendeine Hürde, sei es aufgrund der intensiven motorischen, emotionalen und kognitiven Entwicklung, aufgrund von Infekten und Beschwerden oder aufgrund äusserer Veränderungen wie Start in die Fremdbetreuung oder Geburt eines Geschwisters. Manche Eltern mag es entlasten, wenn sie die Erklärung für eine Phase schwieriger Nächte auf eine sogenannte "Schlafregression" oder einen "Touchpoint" zurückführen können. Das ändert aber nichts daran, dass immer wieder – und bei allen Kindern zu unterschiedlichen Zeitpunkten – solche Hürden auftreten und die Familie dann vermehrt gefordert ist. Ähnlich wie bei den "Wachstumsschüben" (siehe dazu den Beitrag "Sind Wachstumsschübe nur ein Mythos?" von Dr. Zsuzsa Bauer) sind solche Modelle auf ihre Sinnhaftigkeit zu prüfen. Die Autorin vergleicht mehrere Quellen zu den Wachstumsschüben und macht deutlich, dass diese nicht (wie zu erwarten wäre) übereinstimmen. Vielmehr ist es so, dass offenbar alle Kinder zu unterschiedlichen Zeitpunkten vermehrt gestillt/ernährt werden möchten, was ganz unterschiedliche Ursachen haben kann.

Wirklich hilfreich ist es, wenn Eltern lernen, ihr Kind intuitiv zu lesen und auf seine individuellen Bedürfnisse einzugehen. Letztlich brauchen sie konkrete Möglichkeiten, schwierige Phasen gut zu überstehen, indem sie z. Bsp. die Schlafsituation optimieren, liegend stillen, sich nachts abwechseln oder zusätzliche Betreuungspersonen ins Boot holen.

©Sibylle Lüpold

1) The Touchpoints Model of Development. T. B. Brazelton & J. Sparrow (2003)

2) Vergleiche auch "Babyjahre" (2007) von Remy Largo

3) Hier ist zu betonen, dass Kinder auch dann gut schlafen, wenn sie sich vermehrt melden, sofern sie liebevoll betreut werden. Die Eltern hingegen werden vermehrt geweckt und schlafen verständlicherweise nicht gut. Auch ein Kind, das durchschläft, wird mehrmals pro Nacht wach, meldet sich dann aber nicht.


August 2024

Die Erlaubnis, "Nein" zu sagen

Sibylle: Du schreibst davon*, dass sich vor allem viele Frauen schwertun, sich abzugrenzen. Um innerlich im Gleichgewicht zu bleiben, ist genau das aber sehr wichtig. Du sprichst von einem "inneren Konzept von Eigenraum". Was meinst Du genau damit?

Judith: Beim Konzept von Eigenraum können wir uns vorstellen, dass wir um uns herum einen Raum haben, der uns zugehörig ist. In der Regel spüren wir das, wenn uns eine andere Person zu nahekommt. Wir weichen dann instinktiv ein bisschen nach hinten aus, um uns unseren Eigenraum wieder zu verschaffen.

Sibylle: Woran erkenne ich, wie gut respektive wie schlecht ich mich abgrenzen kann?

Judith: Eine Person, die ihre Grenzen wahren kann, ist eigenständig und authentisch. Sie kann Stellung beziehen und muss sich nicht nach aussen orientieren. Wenn ich über einen inneren Eigenraum verfüge, kann ich Menschen, die eine andere Meinung haben, stehen lassen. Ich muss sie nicht überzeugen und ihnen auch nicht helfen, wenn sie das nicht wollen. Sie können selbständig um Hilfe fragen. Menschen mit Eigenraum gehen davon aus, dass es "innen" und "aussen", "Ich" und "Du" gibt. Und es entsteht ein Zwischenraum, in dem wir uns begegnen und verhandeln können.

Sibylle: Für eine Frau, die gerade Mutter geworden ist und möglichst offen sein sollte für die Bedürfnisse ihres Kindes, ist es ja nicht das primäre Thema, sich abzugrenzen – im Gegenteil. Auf der anderen Seite ist sie durch die Sensibilität des Mutterseins dünnhäutiger gegenüber der Welt. Das ist eigentlich eine sehr ungünstige Situation, die da entsteht. Wie kann eine Mutter gleichzeitig ihrem Kind gegenüber offen sein und sich gegen Menschen, die ihr zu nahekommen, abgrenzen?

Judith: Das ist eine zentrale Frage. Ein Kind befindet sich neun Monate lang im Eigenraum der Mutter. Beide sind während der Schwangerschaft und auch nach der Geburt eng verbunden. Es braucht andere Menschen und die Gesellschaft, die helfen, den gemeinsamen Raum von Mutter und Kind zu schützen. Wir nennen das "mothering the mothers", was heißt, dass Mütter die Einbindung in der Generationenlinie der Frauen und einen Schutzraum bekommen.
Die Mutter muss zunächst gegenüber ihrem Neugeborenen noch keinen Eigenraum wahren, sondern sie schwingt sich im gemeinsamen Raum auf die Bedürfnisse des Kindes ein. Erst mit dem Älterwerden wird das Kind allmählich zu einem Gegenüber, das einen eigenen Eigenraum hat. Eltern spüren dies, wenn es seine Autonomie sucht. Anfangs sind viele Eltern bereit, bedürfnisorientiert zu sein und mit ihrem Kind in Resonanz zu gehen – später wird es oft schwierig, wenn das Kind eine eigene Meinung entwickelt und seine eigenen Ideen verwirklichen möchte.

Sibylle: Du sprichst ein Ideal an, wie es sein könnte. Die Tatsache ist aber, dass sich die meisten Mütter in einer Kleinfamilie befinden, wo oft nur der Partner zur Seite steht und dieser Schutzraum, der eine Grossfamilie idealerweise bieten würde, ist nicht gegeben. Die Realität sieht so aus: Familienmitglieder, die die Grenze der Mütter überschreiten und sich einmischen, gesellschaftliche Erwartungen und wirtschaftlicher Druck, dass die Frauen möglichst rasch wieder arbeiten. Mütter befinden sich in einem Spannungsfeld zwischen "Ich möchte mich für mein Kind öffnen und feinfühlig sein" und einer Umwelt, gegen die sie sich abzugrenzen versuchen. Wie kann sich eine Mutter in diesem Spannungsfeld bewegen?

Judith: Genau deshalb ist es so wichtig, dass sie Selbstgrenzen hat. Es gibt ja dieses Bild der Löwenmutter, die den Raum für sich und ihr Kind schützt und sagt: "Nein, ich will im Wochenbett keinen Besuch". Oder eine Mutter, die sagt: "Ich mache jetzt nicht den Haushalt, egal, wie es aussieht. Ich organisiere mir jemanden, der mir hilft." Menschen, die ein Gefühl von Eigenraum und Selbstgrenzen besitzen, können sich schützen. Eltern dürfen darin gestärkt werden zu sagen: "Vielen Dank für Deine Meinung, aber ich mache es so, wie ich es aus mir heraus spüre."

Sibylle: Wie können Frauen konkret üben, ihren Eigenraum zu wahren?

Judith: In der Praxis können wir den Eigenraum mit einem Seil oder Steinen visuell darstellen. So wird dieses Konzept körperlich erlebbar. Im Alltag ist Eigenraum eine geschlossene Zimmertüre, eine vereinbarte Mittagsruhe, die Selbstbestimmung über meinen Körper. Eine Selbstgrenze ist jedoch keine starre und statische Linie, sondern eher eine flexible Membran, also eine Art Austauschorgan oder ein Filter, der den Kontakt nach aussen und nach innen gleichermassen ermöglicht. Wir können mit unserer Umwelt im Austausch und gleichzeitig bei uns selbst zu sein. Das ist das Ziel von Selbstgrenzen. Ich gebe zu, es braucht Übung, um diese immer besser zu spüren. Das Zusammenleben mit Kindern bietet täglich eine Vielzahl von Übungssituationen. Im guten Fall gelingt es, im Zwischenraum Begegnungen zu ermöglichen. Dort können auch Konflikte ausgetragen werden. Die Frustration oder Wut des anderen wird wahrgenommen, ohne sich damit zu identifizieren. Ich kann bei mir bleiben, zuhören und dennoch anschliessend aus der elterlichen Verantwortung heraus entscheiden.

Sibylle: Über Wut möchte ich gerne sprechen. In meinen Beratungen begegnet es mir oft, dass Mütter sich sehr schwer tun damit: Sowohl mit der eigenen Wut, als auch mit der des Kindes. Wenn sie sich selbst wütend erleben, lehnen sie das ab, weil sie nicht mehr die liebevolle Mutter und Partnerin sind, die sie sein möchten. Wenn sie es beim Gegenüber erleben, tun sie sich auch schwer, weil sie die Wut dem anderen meist genauso wenig zugestehen wie sich selbst.

Judith: Menschen mit schlechten Selbstgrenzen möchten mit anderen immer im Gleichklang sein. Sie möchten als gute Menschen wahrgenommen werden und sind auf das Einverständnis des Gegenübers angewiesen, um sich gut zu fühlen. Das wird problematisch, wenn man mit Kindern zusammenlebt. Kinder müssen nicht immer einverstanden sein mit dem, was Eltern entscheiden. Wut ist ein Indikator dafür, dass die Integrität, die Individualität und Werte geschützt werden müssen. Es wäre gut, wenn Erwachsene bereits die Vorzeichen, die sich in Unmut oder Ärger äussern, wahrnehmen. Diese Gefühle sind Anzeichen, dass unsere Selbstgrenzen überschritten werden. Es ist für Kinder hilfreich, den Eigenraum der Mutter/Eltern zu kennen. Kinder haben Anrecht, Wut zu äussern. Sie haben noch keine Möglichkeit, Frustration innerlich zu halten. Ebenso hat auch die Mutter das Anrecht, bei ihrer Entscheidung zu bleiben. Im guten Fall hat sie Techniken, den dabei aufkommenden inneren Stress zu regulieren, damit solche Situationen nicht eskalieren.

Sibylle: Das ist aber hohe Schule! Das setzt voraus, dass eine Frau in jungen Jahren Strategien erarbeitet, mit ihren Emotionen umzugehen und gut bei sich zu bleiben. Aus eigener Erfahrung kann ich aber sagen, dass man als Mutter oft ins kalte Wasser geworfen wird und sich parallel zu den Kindern entwickelt. Für uns alle war es damals enorm erlösend zu erkennen, dass ich meine Wut auch vor meinen Kindern ausdrücken kann, sofern ich ihnen verständlich mache, weshalb ich wütend bin und es nichts mit ihnen zu tun hat. Wichtig war mir aber, sowohl mir selbst als auch ihnen Raum zum Ausdrücken der Wut zu geben.

Judith: Alle Menschen, auch Mütter dürfen wütend sein und dies ausdrücken. Der Unterschied liegt darin, ob ich dem Kind die Schuld für meine Wut gebe oder ob ich selbst die Verantwortung dafür übernehme. Wenn ich wütend bin, dann habe ich meine Integrität nicht geschützt. Ich plädiere dafür, im Vorfeld zu überlegen, wie ich das Zusammenleben gestalten und meine Werte im Alltag leben möchte. Dafür hilft es, sich in Ruhe die Frage zu stellen: "Was soll unser Kind in dieser Situation lernen"? Wenn der Stresspegel schon sehr hoch ist, kann ich nicht mehr aus meinem Kern heraus agieren und die Situation bewusst gestalten. Ich handle reflexartig, was ich später vielleicht bereue. Wut ist ein Signal, das mir mitteilt: Mein Eigenraum ist in Gefahr. Ich brauche Distanz, um meinen Raum zurückzugewinnen.

Sibylle: Ich denke, es ist wichtig, das Tabu zu brechen, dass eine liebevolle Mutter auch mal wütend ist. Mütter sollen ihre Wut nicht verdrängen müssen, sondern sich einzugestehen, dass sie Teil der Lebensenergie ausmacht. Ich hatte irgendwann in einer sehr stressigen Alltagssituation die Erkenntnis, dass ich immer dann wütend werde, wenn ich mich ohnmächtig fühle. Seither spule ich in solchen Situationen den Film zurück und frage mich: Welches war das erste Signal, das ich überfahren habe? So kann ich im Alltag besser auf diese Signale achten, damit ich nicht in diesen Zustand der Ohnmacht und folglich der Wut gerate.

Judith: Menschen entwickeln verschiedene Techniken und Rituale, um ihren Eigenraum zu leben. Es geht nicht so sehr darum, den Raum dauerhaft gegen aussen verteidigen zu müssen und Grenzen zu setzen – das ist sehr anstrengend. Besser ist es, einen Raum um uns herum wahrzunehmen, indem ich meinem Gegenüber zum Beispiel mitteile: "Komm doch in 10 Minuten wieder und frag mich nochmals". Zeit zu schaffen hilft und gibt Distanz um nach Innen zu spüren. Kleine Kinder kennen noch keine Zeiträume und leben in der Gegenwart. Umso mehr müssen sich ihre Eltern darum kümmern, sich Raum und Zeit zu nehmen. Zum Beispiel in Form einer Pause am Mittag, selbst wenn die Kinder nicht mehr schlafen. Kinder profitieren davon, wenn sie mit Menschen zusammenleben, die ihrem Inneren Raum geben. Nicht in Form von Vernachlässigung, sondern als Begegnungs-Angebot im Zwischenraum. Dort gibt es viel mehr als nur Ja oder Nein. Diesbezüglich gibt es viele Missverständnisse: Aber kleine Kinder wollen nicht manipulieren, sie teilen ihre Bedürfnisse mit. Später testen Kinder nicht die Grenzen der Erwachsenen, sondern möchten wissen: "Wofür stehst Du, Mama/Papa? Wer bist du?" Manchmal sind sie verletzend, weil sie herausfinden möchten, ob und wie ihre Eltern für ihre Integrität einstehen. Je klarer die Eltern sind, desto weniger müssen sich Kinder diesbezüglich Informationen verschaffen.

Sibylle: Ich möchte ein konkretes Beispiel bringen: Eine Mutter stillt ihr zweijähriges Kind noch und nun hat jenes eine Phase, in der es permanent an die Brust möchte. Das Thema Abgrenzung kommt jetzt ganz stark ins Bewusstsein der Mutter und sie merkt, dass es sie stresst, wenn das Kind ständig kommt und das T-Shirt hochzieht. Und dann hört sie Kommentare von ihrem Umfeld, sie solle nun dringend Grenzen setzen und abstillen. Die Mutter ist hin- und hergerissen und weiss nicht, in welche Richtung sie gehen möchte, weil sie sich selbst nicht wahrnimmt. Gleichzeitig haben wir zwei andere Mütter in derselben Situation, wobei es für die eine noch absolut stimmig ist, ihr Zweijähriges nach Bedarf zu stillen und die andere die klare Entscheidung trifft, abzustillen. Drei Mütter in derselben Situation: zwei sind klar, eine ist ambivalent. Es geht hier um Abgrenzung, aber die Frage ist, gegen wen oder was grenze ich mich ab? Gegen das Kind? Gegen die gesellschaftlichen Erwartungen?

Judith: Die ambivalente Mutter braucht Zeit und die Erkenntnis, dass sie sich nicht gegen, sondern für etwas entscheiden kann. Es gibt vielleicht Momente, in denen sie noch sehr gerne stillt und merkt, dass es gut ist, diese Bindung zu stärken und in anderen Momenten spürt sie, dass sie es nicht mehr will, was sie ihrem Kind auch so mitteilen kann. Sie kann ihm zutrauen, damit zurechtzukommen, nicht mehr jedes Mal gestillt zu werden. Dadurch lebt sie ihrem Kind vor, dass man Entscheidungen, die man für sich, nicht gegen andere trifft.

Ich wünsche mir, dass Mütter sich erlauben, in innerer Verbundenheit zu sein. Sie brauchen sich nicht auf Prinzipien, Ideologien oder Ideen der Aussenwelt zu beziehen, sondern dürfen sich auf ihre inneren Impulse verlassen. Dies heisst auch, dass sie in einem Moment so und in einem anderen anders entscheiden können. Sie stellen ihre Entscheidung in den Zwischenraum, allenfalls für Verhandlung. Eigenraum verhilft uns dazu, "Ja" oder "Nein" zu sagen. Viele Menschen, besonders Frauen, denken, sie müssten lernen, mehr Nein zu sagen, doch das ist nicht das Ziel. Ja und Nein sind immer zwei Seiten derselben Medaille. Frauen können sich überlegen, zu was sie Ja sagen möchten. Wenn sie sich diesen Anteil bewusst machen, können sie viel eher Nein sagen. Sie sagen dann bewusst Ja zu ihrer Gesundheit, zu ihrer Würde, zu ihren Werten, zu ihrem Schutz und zu ihrer Eigenständigkeit. Was für eine Chance, dies künftigen Generationen vorzuleben!


Im Gespräch mit der Psychotherapeutin Judith Biberstein war Sibylle Lüpold. Mehr Infos zu Judith: inneremraumgeben.ch

Nein und ja sagen lernen Für einen selbstbestimmten Umgang mit Abgrenzung

Juli 2024

Stillen & Schlafen: Eine Win-Win-Beziehung

Im Gespräch mit Karin Guggisberg-Bucher

Du bist sowohl Still- als auch Schlafberaterin. Sind das zwei getrennte Bereiche oder fliessen in Deinen Beratungen die Themen ineinander über?Die beiden Themen Stillen und Schlafen sind nicht voneinander zu trennen. Während der Schwangerschaft machen sich viele Eltern noch wenig Gedanken um die Nacht - nachts wird ja geschlafen. Für den Säugling sind die Nachtstunden jedoch zentral für seine gesunde Entwicklung und sein Gedeihen. So setzt das Baby alles daran, nachts möglichst in der schützenden Nähe der Mutter zu sein und sein auf Höchstleistung arbeitendes Gehirn laufend mit Energie zu versorgen. In den meisten meiner Beratungen besprechen wir die Ernährung bzw. das Stillen, ebenso wie die Nächte und den Schlaf der Familie. Es kommen in fast jeder Stillberatung Fragen zu den Nächten und in jeder Schlafberatung ist auch die nächtliche Ernährung und das Stillen ein zentraler Aspekt, der besprochen wird.






Inwiefern beeinflusst die Schlafsituation die Stillbeziehung?
Verschiedene Wissenschaftler haben in aufwändigen Studien genau zu diesem Thema geforscht. In einer Vielzahl dieser Studien konnte aufgezeigt werden, dass das Schlafsetting einen signifikanten Einfluss darauf hat, wie oft ein Säugling gestillt wird. Erfolgreiches nächtliches Stillen führt zu einer verbesserten Milchbildung. Mütter, die ihre Kinder nachts ohne viel Anstrengung stillen können, tun dies auch deutlich länger. Ein ausschliessliches Stillen im ersten Lebenshalbjahr und Weiterstillen bis zum 2. Geburtstag und darüber hinaus, ist das Ziel weltweit tätiger Gesundheitsorganisationen. Es hat unfassbar viele Vorteile für das Kind, möglichst lange gestillt zu werden und auch für die Gesundheit der Mutter nimmt das Stillen eine grosse Bedeutung ein.

Macht es einen Unterschied für die stillende Mutter, ob ihr Kind bei ihr im Bett, in einem Beistellbettchen oder im eigenen Zimmer schläft?
Ja, es macht einen deutlichen Unterschied! Wenn wir uns vorstellen, dass ein junger Säugling in den ersten Monaten phasenweise mehrmals pro Nacht gestillt wird und die Mutter dafür jedes Mal aufstehen und den Raum wechseln muss, ist unschwer zu erkennen, dass dies körperlich enorm anstrengend ist – das Herzkreislaufsystem muss bei jedem Aufstehen Leistung erbringen, die Mutter hält sich wach, denn sie möchte ja anschliessend wieder in ihr Bett. Ein sogenanntes Co-Sleeping (z.B. Schlafen des Babys in einem Beistellbett) erübrigt das Aufstehen der Mama; sie kann ihr Baby ganz einfach zu sich hinziehen und stillen. Manche Mamas bemühen sich dann aber doch wach zu bleiben, um das Baby wieder zurückzulegen.
James McKenna und Lee Gettler führten 2016 den Begriff "Breastsleeping" ein, der die enge physiologische und verhaltensmäßige Verbindung zwischen Stillen und gemeinsamem Schlafen anerkennt. Ihrer Ansicht nach sind Stillen und Schlafen nämlich untrennbar. Damit das möglichst gut klappt, ist eine gemeinsame Schlaffläche von Mutter und Kind sinnvoll – wir sprechen hier von Bedsharing. Die Wissenschaftler haben verschiedene klinische Studien durchgeführt und konnten durch Videoaufnahmen im Schlaflabor aufzeigen, wie Mütter und ihre Kinder instinktiv aufeinander reagieren, oft ohne dabei ganz aufzuwachen.
Bei den Babys, die von Anfang an im sicheren Bedsharing mit der Mama schlafen, sehen wir, dass sie oft viel ruhiger schlafen und weniger weinen. Ihr Grundbedürfnis nach Sicherheit, Schutz und Nähe wird positiv beantwortet und sie lernen, dass es nicht nötig ist, ihr inneres Alarmsystem immer auf höchster Sensibilitätsstufe laufen zu lassen. Dies wiederum lässt auch die Mutter ruhiger schlafen.

Wie sieht eine möglichst stillfreundliche Schlafsituation aus?
Zum einen brauchen die Eltern Wissen und Verständnis darüber, dass Stillen nach Bedarf – also immer dann, wenn das Baby danach verlangt – tagsüber als auch nachts das Optimum ist. Die Kinder sind sehr kompetent und steuern durch ihr Stillverhalten die Milchmenge so, wie sie es für ihre Entwicklung und Gedeihen brauchen. Nächtliches Stillen hat im gesamten ersten Lebensjahr zahlreiche Vorteile für die Entwicklung und Gesundheit des Kindes.
Zum anderen sollten die Schlafplätze so gewählt und vorbereitet sein, dass ein sicheres gemeinsames Schlafen von Mutter und Baby in unmittelbarer Nähe möglich ist. Dafür brauchen Eltern korrekte Informationen (siehe www.1001kindernacht.ch/Willkommen/Wissenswertes/). Genauso wichtig ist, dass sie in ihrem Entscheid Zustimmung aus dem sozialen Umfeld, wie auch von Fachpersonen erhalten.

Weshalb denken so viele Eltern, dass ihr Kind nicht bei ihnen im Bett schlafen darf?
Ich erlebe hauptsächlich zwei Gründe: Zum einen haben sie eine grosse Verunsicherung oder gar Angst, dass Bedsharing für den Säugling gefährlich sein kann (die tief verankerte Angst vor dem Plötzlichen Kindstod) oder sie erhalten die Anweisung von Fachpersonal, ihr Kind unter keinen Umständen ins Bett zu nehmen. Wir wissen heute, dass ein sicheres Bedsharing kein Risiko birgt. Der Schweizer Kinderarzt Oskar Jenni schreibt im Dokument „Bedsharing und plötzlicher Kindstod: Aktuelle Empfehlungen“
1: „Wenn man von spezifischen Risikofaktoren absieht, dann scheinen die Risiken für einen SIDS bei Bedsharing per se klein zu sein.“ 
Zum andern scheint noch immer die Sorge um ein mögliches "Verwöhnen" des Kindes und dadurch das Hemmen seiner Autonomieentwicklung in den Köpfen der Eltern zu sein. Auch hier haben wir zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten, die das genau Gegenteil belegen. Ist genug Nähe und Sicherheit da (sichere Bindung), wächst das Bedürfnis nach Autonomie und Exploration.

Halten sich die Eltern an die Empfehlungen, ihr Kind im eigenen Bettchen schlafen zu lassen?
Jein. Es gibt Eltern, die diese Empfehlung strikt einzuhalten versuchen; manchmal unter grossem Leidensdruck, wenn das Kind sein Bedürfnis nach Nähe und Sicherheit mit häufigem Aufwachen und Weinen kundtut. Dann gibt es Eltern, die zwar versuchen, das Baby im eigenen Bettchen schlafen zu lassen, es aber dann doch zu sich nehmen. Aus Scham oder Angst sagen sie niemandem, dass ihr Kind bei ihnen im Bett schläft.
Auch Oskar Jenni merkt an, dass die aktuellen Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie von Eltern und Gesundheitsfachpersonen ungenügend umgesetzt werden. Eine Empfehlung gegen Bedsharing birgt laut Jenni das Risiko, dass Mütter früher abstillen als erwünscht oder die Kinder in der Nacht auf einem Sofa ernährt werden, was der gefährlichste Schlafort ist. So spricht sich Jenni deutlich gegen das generelle „Verbot“ von Bedsharing aus.

Was müsste in der professionellen Unterstützung rund um die Geburt anders laufen, um sowohl die Stillbeziehung als auch die Schlafentwicklung möglichst gut zu unterstützen?
Ich teile die Meinung der Forscherin Meera Menon. Sie schreibt: "Was es braucht, sind offene, ehrliche Gespräche mit den Familien über die Überschneidung von Stillen und sicherem Schlaf. Wir sehen, dass beides oft getrennt voneinander gelehrt wird, aber die Eltern erleben es zusammen.“
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Mein großer Wunsch wäre, dass Eltern bereits vor der Geburt korrekte Informationen zum Thema Stillen und sicheren Säuglingsschlaf erhalten würden – mit dem Ziel informiert zu sein und sich von Anfang an sicher zu fühlen. Wenn sich Eltern innerlich und auch ganz praktisch gut vorzubereiten, könnten wir enorm viel Stress, Anstrengung und zudem auch gefährlichen Notfallreaktionen vorbeugen.

Das Gespräch geführt hat Sibylle Lüpold.

Karin Guggisberg-Bucher ist Schlafberaterin 1001kindernacht® und begleitet Eltern zu allen Fragen rund um die Themen Schlafen, Stillen, Tragen u.a. in ihrer Praxis (familienweg.ch). In ihrer Facharbeit im Rahmen der CAS-Ausbildung für Still- und Laktationsberatung an der Berner Fachhochschule hat sie sich in das Thema "Gemeinsames Schlafen der stillenden Mutter mit ihrem Säugling - Forschungsergebnisse im Zusammenhang Stillen und Schlafpraxis“ vertieft.

Genannte Quellen:

1) Jenni, O., Bucher, H. U., Gosztonyi, L., Hösli, I., Honigmann, S., Sutter, M., Aeschlimann, C. & Nydegger, A. (2013). Bedsharing und plötzlicher Kindstod: Aktuelle Empfehlungen. Pädiatrie Schweiz. https://www.paediatrieschweiz.ch/bedsharing-und-plotzlicher-kindstod- aktuelle-empfehlungen/

2) Menon, M., Huber, R., West, D. D., Scott, S., Russell, R. B. & Berns, S. D. (2023). Community-based approaches to infant safe sleep and breastfeeding promotion: a qualitative study. BMC Public Health, 23(1). https://doi.org/10.1186/s12889-023-15227-4

Juni 2024

Schreien lassen ist out – oder etwa doch nicht?

Die Kinderärztin habe dazu geraten, Mattia (9 Monate alt) nachts schreien zu lassen, wenn er wach werde, erzählen mir Sandra und Pablo in der Beratung. Das wollen sie aber nicht und so besprechen wir das bindungsorientierte Vorgehen nach 1001kindernacht®, um ihre Nächte angenehmer zu gestalten.

Dass es nach wie vor Fachleute gibt, die zu Methoden raten, bei denen ein Baby oder Kleinkind nachts alleine und schreien gelassen wird, scheint in Anbetracht der langjährigen Erkenntnisse aus der Bindungs- und Hirnforschung kaum verständlich. 2010 entstand die Broschüre "Kinder brauchen uns auch nachts" (Vorsicht Ferbern), in der mehrere Experten erklären, warum Schreien lassen keine gute Idee ist.

Ich hatte in den letzten Jahren den Eindruck, dass sich unsere Gesellschaft diesbezüglich stark sensibilisiert hat. Immer mehr feinfühlige und gut informierte Eltern treffen heutzutage bewusst die Entscheidung, ihr Kind keinesfalls schreien lassen zu wollen.
Nun muss ich mir aber eingestehen, dass ich mich vielleicht zu sehr in meiner "Blase" bewegt habe und einfach nicht wahrhaben wollte, dass es nach wie vor Fachleute gibt, die Schreien lassen als empfehlenswerte Methode erachten. Offenbar scheint sich bei diesem hochemotionalen Thema in der Fachwelt ein grosser, unüberwindbarer Graben aufgetan zu haben, wobei sich beide Seiten gegenseitig ausblenden.
Fachliteratur(1)  zum Thema Kinderschlaf sieht die sogenannte "Extinction" (Extinktion = Löschen eines kindlichen Verhaltens durch Nicht-Reagieren der Eltern, im konkreten Sinn eben Schreien lassen) nach wie vor als angebrachte Therapiemethode bei "Schlafstörungen".

Dieser Ansatz aus der Verhaltenstherapie wird im deutschen Sprachraum u.a. mit der "Mini-KiSS-Methode"(2) vermittelt. Mini-KiSS ist ein psychologisches Behandlungsprogramm, das sich an Eltern von Kindern zwischen 0-4 Jahren richtet und diese im Umgang mit "Schlafstörungen" anleitet.
Interessant ist hier, dass von einem "Elterntraining" gesprochen wird. Es wird also davon ausgegangen, dass nicht das Kind, sondern die Eltern trainiert werden sollen. Die permanente Ermahnung im Buch, unbedingt konsequent zu sein, zielt bewusst darauf ab, das (natürlicherweise liebevolle und nachgiebige) Verhalten von Eltern zu unterbinden. Korrektes Wissen zum kindlichen Bedürfnis nach Sicher- und Geborgenheit und zur kindlichen Entwicklung wird mit Annahmen vermischt, die dem bindungstheoretischen Ansatz klar widersprechen. Das Kind müsse lernen, alleine zu schlafen und dürfe nur in absoluten Ausnahmesituationen ins Elternbett genommen werden. Warum das so sein soll, wird nicht hinterfragt.
Was im Buch beschrieben wird, ist letztlich nichts anderes als die Ferbermethode etwas anders verpackt. Meine Kritik an der Ferbermethode habe ich bereits hier Vorsicht Ferbern und in meinem Buch "Ich will bei euch schlafen" geäussert. Beim Mini-KiSS-Konzept wird der "nachgiebigere" Elternteil u.a. mit Stoppschildern an der Kinderzimmertür und Von-Zuhause-weggehen davon abgehalten, durch das Weinen des Kindes weich zu werden.
Da es hier um Kinder bis zum vierten Geburtstag geht, sind Eltern von älteren Kindern auf deren Kooperation angewiesen, da jene in der Regel ab dem 2. Geburtstag in der Lage sind, ihr Bett/Zimmer nachts zu verlassen. Nun soll das Kind einerseits durch Belohnungssysteme und andererseits durch konsequentes Ignorieren dazu gebracht werden, weder nach den Eltern zu rufen, noch zu ihnen zu gehen

Was das Kind hier lernt, ist: Wenn ich meine Ängste und mein Bedürfnis nach Zuwendung unterdrücke, haben meine Eltern mich lieb und ich bekomme eine Belohnung. Diesen Ansatz finde ich in zweierlei Hinsicht bedenklich: Erstens ist es für die gesunde emotionale Entwicklung eines Kindes höchst problematisch, wenn es darin bestärkt wird, seine Bedürfnisse und Emotionen nicht zu äussern (wodurch es für eine spätere emotional bedingte Störung bereits prädestiniert ist). Zweitens wird dieser "Lernschritt" mit Belohnungen wie Medienkonsum und Süssigkeiten verknüpft. Es ist davon auszugehen, dass diese Kinder auch später zu solch ungünstigen Bewältigungsmethoden greifen, wenn es ihnen nicht gut geht – und eben nicht die gesunde Co-Regulation durch eine Bindungsperson wählen. Sie haben verstanden: "Wenn ich Angst habe oder mich einsam fühle, muss ich alleine damit zurechtkommen und darf mein Umfeld nicht damit belästigen. Bestenfalls fühle ich diese unangenehmen Zustände gar nicht und verdränge sie." Unterdrückte Emotionen hemmen jedoch die gesunde Entwicklung des Kindes und äussern sich früher oder später in einer Störung. Der gesunde Umgang mit den Emotionen, und damit meine ich das Wahrnehmen und Ausdrücken von Wut, Angst, Trauer etc... und lernen, damit umzugehen, ist aus meiner Sicht eine der ganz grossen Aufgaben, die Eltern haben, um ihrem Kind einen guten Start ins Leben zu ermöglichen.

Fazit: Trotz der massiven und fundierten Kritik an Schlaftrainings, werden Methoden, bei denen das Kind alleine und schreien gelassen wird, in manchen Kreisen der Fachwelt nach wie vor als geeignetes Vorgehen erachtet. Die Fachwelt scheint sich also in diesem Thema nicht einig zu sein, was für die Eltern, die sehr widersprüchliche Empfehlungen erhalten, irritierend ist. Ich hoffe, dass in Zukunft eine fachliche Diskussion möglich ist, die darauf abzielt, individuell passende Vorgehensweisen zu vermitteln, die sowohl die Eltern-Kind-Bindung unterstützen als auch die Nächte der ganzen Familie entspannen.

©Sibylle Lüpold

1. So z.Bsp. das Buch "Cognitive‐Behavioural Therapy For Insomnia (CBT‐I) Across The Life Span: Guidelines and Clinical Protocols for Health Professionals" Chiara Baglioni, Colin A. Espie, Dieter Riemann, European Sleep Research Society, European Insomnia Network, European Academy for Cognitive Behavioural Therapy for Insomnia, 2022
2. "Mini-KiSS. Begleit- und Arbeitsbuch für Eltern. Das Elterntraining für Kinder bis 4 Jahre mit Schlafstörungen" Angelika A. Schlarb. Kohlhammer Verlag 2014

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Mai 2024

Mütter müssen genährt werden 

Gespräch mit Giovanna Caflisch

"Stillen ist 90 Prozent Entspannung und 10 Prozent Knowhow", habe ich einmal gelesen und diesen Satz nie mehr vergessen. Eine Mutter kann sich noch so viel Wissen zum Stillen aneignen, wenn es ihre inneren und äußeren Lebensumstände nicht zulassen, dass sie entspannt sein kann, wird sie das Stillen möglicherweise als schmerzhaft erleben oder aber die Milch wird nicht (gut) fließen. Das Baby, frustriert über den spärlichen oder langsamen Milchfluss und dem Stress der Mutter ausgesetzt, wird höchstwahrscheinlich mit Schreien oder Unruhe reagieren, was die negativen Gefühle der Mutter noch verstärkt. Da entsteht eine Problematik, die zu komplex ist, als dass man sie in einer einfachen Stillberatung lösen könnte. Fachleute, die körpertherapeutische Methoden anbieten (wie meine Gesprächspartnerin im anschließenden Interview), können betroffene Mütter weiterführend unterstützen.

Sibylle Lüpold: Frau Caflisch, welche Mütter kommen zu Ihnen in Behandlung?
Giovanna Caflisch: Meistens handelt es sich um Mütter, deren Start in die Mutterschaft erschwert ist und bei denen es zum Beispiel Bindungsprobleme mit ihrem Kind gibt. Dies kann aufgrund schwieriger Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett oder Stillbeziehung sein. Es sind überwiegend Frauen, die mit sich und ihrer neuen Aufgabe als Mutter hadern und die massiven Stress erfahren. Häufig sind sie physisch erschöpft. Viele von ihnen wissen zwar auf der kognitiven Ebene sehr viel über die Mutterschaft und Kinderbetreuung, sind aber ungenügend mit sich selbst verbunden und klagen über fehlende Muttergefühle.
Oft haben diese Mütter zudem ein Baby, das viel und scheinbar grundlos schreit. Der mütterliche Stress wird manchmal vom Baby zum Ausdruck gebracht. Werden dann der Fokus und die Erwartungen im weiteren Verlauf nur auf das Kind gesetzt, bleibt der Stresspegel hoch, und das Kind kann nicht zur Ruhe kommen. Ich kläre die Mütter zu Beginn der Therapie folgendermaßen auf: Ich arbeite primär mit dir, und wir beziehen dann nach und nach dein Kind mit ein. Die Emotionelle Erste Hilfe (EEH), deren ich mich dabei bediene, ist eine Form der Krisenintervention mit Elementen aus der Körperpsychotherapie. Ihr Ziel ist es, die Mutter-Kind-Bindung zu stärken. Sie lässt sich auch sehr gut bei der Vorbereitung auf eine bewusste Elternschaft einsetzen. Grundsätzlich kann mich jede Mutter aufsuchen, die bei ihrer Aufgabe an ihre Grenzen kommt, zum Beispiel, wenn ihr Kind im sogenannten Trotzalter ist. Meine Lieblingsworte bezüglich meiner Arbeit sind: Herunterfahren, Verlangsamen, Zentrieren und Stabilisieren. Die Mutter soll zuerst Halt in sich selbst finden, damit sie dann auch ihrem Kind Halt geben kann.

Sibylle Lüpold: Warum ist Stillen für heutige Mütter so schwierig?
Giovanna Caflisch: Informationen erhalten Mütter heute hauptsächlich via Ratgeberliteratur und Internet. Es fehlt jedoch eine innere Orientierung. Genau um das geht es dann in meiner Arbeit: Ich möchte eine Mutter einerseits darin unterstützen, Stress in ihrem Leben zu reduzieren und ihr Lebenstempo zu verlangsamen, andererseits soll sie in Kontakt mit ihrer inneren Stimme und ihrer Intuition treten. Eine Mutter, die nicht mit sich selbst verbunden ist, kann kaum Bindung zu ihrem Kind aufbauen. Der westliche berufstätige Mensch befindet sich ständig in einer unglaublichen Hektik und einem Aktivismus, der nach außen orientiert ist. Wir glauben, alles planen und bestimmen zu können, sogar die Empfängnis. Viele Frauen, die berufstätig sind und schwanger werden, haben Mühe damit, das Tempo ihrer bisherigen Lebensweise zu verlangsamen. Das kann dann auch zu Stillproblemen führen; es wird zu schnell und zu viel getan, obschon Stillen eigentlich ein passiver, zulassender Akt ist. Von daher wäre es sehr sinnvoll, Frauen schon vor der Schwangerschaft auf das Muttersein vorzubereiten. Wenn sie lernen könnten, sich zu öffnen, loszulassen und einfach zu sein, könnten sie ihre Mutterschaft entspannter angehen und genießen.


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Auch in unserer westlichen Gesellschaft können und müssen wir versuchen, Ruhe und Achtsamkeit in unseren Alltag zu integrieren. Das könnte schon im Kindergarten beginnen, wo Momente der Stille eingehalten würden. Wenn wir unser Tempo verlangsamen und innehalten, kommen wir in Kontakt mit unseren Emotionen, die nicht immer nur angenehm sind. Gefühle der Angst oder der Langeweile müssen dann ausgehalten werden können, dafür begegnen wir unserem Selbst. Der westliche Aktivismus könnte auch als Versuch bezeichnet werden, seinem eigenen Selbst nicht begegnen zu müssen. Dabei könnte genau dies die Wachstumschance für jeden Einzelnen sein. Hinzu kommt, dass viele Mütter unter einer großen Vereinsamung und sozialen Isolation leiden.
Um mit einem Neugeborenen in Beziehung zu treten, müssen wir ruhiger werden. Ein Baby will gestillt werden, nicht nur ernährungstechnisch. Dem messen wir viel zu wenig Bedeutung bei. Aber nicht nur das Baby muss sowohl mit Nahrung als auch mit emotionaler Zuwendung genährt werden, sondern auch die Mutter und der Vater! Bei uns werden die Mütter nach der Geburt viel zu wenig umsorgt. Wenn ich Paare auf die Geburt vorbereite, dann frage ich sie, wer sich im Wochenbett um sie (beide!) kümmern wird. Wer kommt vorbei, kauft ein, kocht und hilft im Haushalt? Manche Mütter sind wortwörtlich am Verhungern, weil sie kaum noch Zeit finden, sich hinzusetzen und in Ruhe zu essen.
Eine Mutter muss sich in einem nährenden und Sicherheit spendenden Umfeld befinden, damit sie sich auf ihr Kind einlassen und wirklich für es da sein kann. Diese die Mutter und das Kind schützenden Rahmenbedingungen sind in unserer Kultur oft nicht mehr gegeben. Zum Glück kommt es langsam zu einem gesellschaftlichen Bewusstseinswandel.

Sibylle Lüpold: Nehmen wir ein konkretes Beispiel: Eine Mutter klagt darüber, dass ihr Baby viel schreit, und sie ist besorgt, dass ihre Milch nicht ausreicht, um es zu ernähren. Genau dieser Stress kann dazu führen, dass die Milchmenge zurückgeht und/oder das Kind die Brust verweigert. Wie gehen Sie da vor?
Giovanna Caflisch: Als Allererstes versuche ich der Mutter zu helfen, sich selbst "anzubinden". Sie muss die Konzentration weg vom Kind auf sich selbst lenken. Anstatt sich darüber Sorgen zu machen, ob und wie viel ihr Kind an der Brust getrunken hat, kann sie sich fragen: Wie fühlt sich das Stillen für mich an? Unter welchen Umständen kann ich das Stillen genießen? Und wenn sie sich auf ihr Kind konzentriert, dann indem sie es wirklich anschaut und zu spüren versucht, wie es ihm geht. Sieht es satt und zufrieden aus? Viele Menschen brauchen immer messbare Werte: Wie schwer ist ein Kind? Wie viele Milliliter Milch hat es getrunken? Das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung kommt dabei völlig abhanden.
Das beginnt ja schon nach der Geburt: Da wird das Kind vermessen und muss nach einer bestimmten Zeit eine bestimmte Menge zugenommen haben. Wenn das nicht der Fall ist, wird Stress erzeugt, was die Stillprobleme vergrößern kann. Dabei könnte man Mutter und Kind einfach einmal in Ruhe sich kennenlernen und in der neuen Welt ankommen lassen. Zudem fokussieren viele sich auf das Kind, anstatt die Mutter auch einmal nach ihrem Befinden und ihren Bedürfnissen zu fragen.
Es kann vorkommen, dass Mütter beim Stillen mit der archaischen Angst in Kontakt kommen, dass ihr Kind nicht genug Nahrung bekommen könnte. Wenn wir uns bedroht fühlen, geraten wir automatisch in einen Stresszustand, in dem sich unser Körper auf Flucht oder Kampf vorbereitet. In modernen Spitälern herrscht oft eine Atmosphäre, die von Angst geprägt ist: Ärzte und Pflegende sind stets auf alle Komplikationen vorbereitet und befürchten, etwas zu verpassen. Dieser Stress, der sich dann auf die sensible Mutter überträgt, ist bindungsschwächend. Wie sollte sie da gleichzeitig genug Ruhe und Zuversicht haben, um sich auf ihr Baby einzulassen?
Eine Babywaage kann sinnvoll sein, wenn sie dazu eingesetzt wird, eine Mutter zu bestätigen. Wenn aber das Wiegen des Babys dazu führt, dass es bei einer Mutter Angst erzeugt und dadurch die Stillbeziehung beeinträchtigt, ist es kontraproduktiv.

Sibylle Lüpold: Was müsste an der Stillförderung verbessert werden?
Giovanna Caflisch: Jeder, der als Berater tätig ist, sollte zuerst einmal genau bei sich schauen. Einen anderen Menschen zu beraten, bedeutet ja nicht nur, Wissen und Techniken zu vermitteln, sondern in erster Linie eine Bindung aufzubauen. Ohne Bindung, ohne Vertrauen, ist mein Gegenüber auch nicht offen für meine Empfehlungen. Die Stillförderung ist wichtig und hat viel erreicht, aber sie ist manchmal zu technisch und auf intellektuelles Wissen fokussiert. Wir denken, dass wir die Stillraten verbessern können, indem wir den Müttern noch mehr Wissen und noch bessere Methoden vermitteln. Dabei vergessen wir, dass wir als Beraterinnen primär Mensch sind.
Dass wir über wertvolle fachliche Grundlagen zu Themen wie Stillen, Entwicklung des Kindes, Mutterschaft usw. verfügen, ist enorm wertvoll. Nun muss es aber noch in unsere Lebensweise integriert werden. Das fängt in der Schule an. Es reicht nicht, über Verhütung zu sprechen. Wir müssen den Kindern auch beibringen, wie ein Baby betreut wird und was Elternschaft bedeutet.
Erfahrung und Zugang zur eigenen Intuition kann aber nicht gelehrt werden. Dazu braucht es eben ein Innehalten und eine Selbstanbindung.

Sibylle Lüpold: Wie arbeiten Sie mit einer Mutter, die abstillen muss oder möchte?
Giovanna Caflisch: Ich prüfe zuerst, welche Unterstützung sie bekommen kann. Ein funktionierendes soziales Netz muss aufgebaut und jede mögliche Hilfe mobilisiert werden. Die Mutter soll sich in einer sicheren und ruhigen Umgebung um ihr Baby kümmern können. Manchmal muss auch der Vater entlastet werden. Es ist sehr wichtig, dass die Mutter ihre Ressourcen erkennt. Was tut ihr gut? Was hilft ihr? Wenn das alles nicht hilft, die Stillbeziehung zu verbessern, dann rede ich mit der Mutter darüber, was denn genau ihre Motivation zum Stillen ist. Was würde im schlimmsten Fall passieren, wenn sie ihr Kind nicht stillen kann? Hier kann es dann zu einem Trauerprozess kommen, der verarbeitet werden muss. Die Mutter muss Abschied nehmen von ihrem inneren Ideal der "perfekten" Mutter und manchmal auch vom Ideal des "perfekten" Kindes. Sie kann darin begleitet werden, ihre Vorstellungen loszulassen.
Es geht aber primär immer um Wertschätzung und Anerkennung ihrer Leistung, egal, ob sie stillt oder nicht. Es gibt außerdem nicht einfach die Stillbeziehung. Jede Beziehung zwischen einer Mutter und einem Kind ist einzigartig. Auch wenn eine Mutter nicht ausschließlich stillt, kann ihre Stillerfahrung sehr wertvoll und bereichernd sein. Manchmal geht es darum, an einem Konflikt zu arbeiten und ihn zu lösen, manchmal muss eine Situation bewusst verändert werden. Da kann auch das Abstillen dazugehören. Wenn die Bindung zwischen Mutter und Kind nicht von Anfang an gelingt, kann das mit Hilfe einer geeigneten Therapeutin, eines geeigneten Therapeuten auch noch später gelingen.

Dieses Interview steht im Buch Stillen ohne Zwang, Sibylle Lüpold, 2013

April 2024

In Erinnerung an Remo Largo

Vor Kurzem fiel mir wieder einmal das Buch "Babyjahre" von Remo Largo in die Hände. Ich hatte lange nicht mehr darin gelesen und staunte, wie wertvoll dieser Klassiker gerade auch in Bezug auf den Kinderschlaf nach wie vor ist. Dass Remo Largo, Professor für Kinderheilkunde und grosser Verfechter der individuellen kindlichen Entwicklung, vor fast vier Jahren gestorben ist, ist ein echter Verlust für diese Welt. Kaum ein Kinderarzt hat weltweit so viel bewegt wie er. Und trotz diesem enormen Erfolg war er stets nahbar und bescheiden. Ich erinnere mich gut, wie ich ihm vor fast zwanzig Jahren, nachdem ich erfahren hatte, dass es so etwas Unmenschliches wie die Ferbermethode gibt, einen Brief geschrieben hatte, mit der Bitte, er möge doch etwas dagegen unternehmen. Meine absolut naiven Zeilen landeten keineswegs in seinem Papierkorb, vielmehr rief er mich zwei Tage später an und fragte mich, was ich mir denn genau vorstelle. Wir führten ein für mich äusserst wertvolles Gespräch, in dem er mir erklärte, dass seine Art, für die Bedürfnisse unserer Kinder einzustehen, nicht sei, gegen etwas zu sein, sondern sich für etwas einzusetzen. Das hat mich schwer beeindruckt und begleitet mich als Leitsatz bis heute. Zudem ermunterte er mich damals, selbst aktiv zu werden und ein Buch zu schreiben, was ich dann glücklicherweise auch getan habe. Somit hat Remo Largo auch dazu beigetragen, dass es 1001kindernacht® heute gibt.

In seinem Buch (Ausgabe 2007) hat es viele wunderbare Sätze, von denen ich hier einige zitieren möchte:

"Die psychischen Bedürfnisse eines Kindes sind schwieriger wahrzunehmen und deshalb auch weniger leicht zu befriedigen als die körperlichen. Damit es einem Kind gut geht, muss es sich geborgen und angenommen fühlen. Geborgenheit setzt die Nähe vertrauter Personen voraus. Ein Kind kann, insbesondere in den ersten Lebensjahren, nicht alleine sein. Es braucht eine vertraute Person, die ihm jederzeit Nähe, Hilfe und Schutz geben kann." (S.14)


"Neben der Intuition spielen die eigenen Kindheitserfahrungen eine wesentliche Rolle. Wie sich die Eltern als Kinder gefühlt und wie sie ihre eigenen Eltern erlebt haben, beeinflusst wiederum ihre Erziehungsverhalten. Dieses wird schliesslich, je älter das Kind wird, zunehmend von überlieferten Grundhaltungen und Normvorstellungen bestimmt. Letztere übernehmen die Eltern in Gesprächen mit Verwandten und Bekannten oder aus den Medien. Sie gehen beispielsweise davon aus, dass ein Kind im Alter von 3 Monaten nachts durchschläft, dass es mit einem Jahr die ersten Schritte macht und mit 2 Jahren spricht. Solche Vorstellungen entsprechen den Kindern aber nur ausnahmsweise, da sich Kinder sehr unterschiedlich entwickeln. Normvorstellungen wecken falsche Erwartungen und verunsichern die Eltern. Sie erwarten beispielsweise, dass ein 1-jähriges Kind 12 Stunden pro Nacht schläft. Es gibt Kinder auf die diese Annahme zutrifft, für die Mehrheit der Kinder gilt sie aber nicht." (S. 18)


"Eltern müssen sich nicht ständig aktiv darum bemühen, damit ihr Kind Fortschritte macht. Es braucht nicht «gefördert» zu werden. Das Kind entwickelt sich aus sich heraus, solange sein körperliches und psychisches Wohlbefinden gewährleistet ist und es entwicklungsspezifische Erfahrungen machen kann. (...) Für jeden Entwicklungsschritt gibt es einen bestimmten Zeitpunkt, an dem das Kind innerlich dazu bereit ist. Wann es soweit ist, zeigt uns das Kind mit seinem Verhalten an." (S. 20/21)


"Das Kind bindet sich an die Eltern unbesehen davon, ob es sich um liebevoll verständige Eltern oder um «Rabeneltern» handelt. Ein Kind kann von seinen Eltern noch so sehr vernachlässigt werden, es wird über viele Jahre die Beziehung zu ihnen nie grundsätzlich infrage stellen." (S. 51)


"Kinder sind ihren Eltern vorbehaltlos zugetan und ihnen damit auch auf Gedeih und Verderb ausgeliefert! Dies sollten wir als Eltern immer bedenken. Die Kinder lieben uns nicht nur, weil wir so grossartige Eltern sind." (S. 52)


"Kinder orientieren sich weit weniger an dem, was Eltern und Bezugspersonen von ihnen verlangen, als vielmehr an dem, was sie von diesen konkret vorgelebt bekommen." (S. 65)


"In der westlichen Welt müssen wir uns ernsthaft fragen, ob unser Umgang mit dem Säugling seinem Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit gerecht wird. Mindestens ein Teil der Kinder scheint für das körperliche und psychische Wohlbefinden während des Tages, aber auch in der Nacht auf einen ausgedienten Körperkontakt angewiesen zu sein." (S. 209)


"Aus unerfindlichen Gründen sind viele Eltern der Ansicht, dass Kinder alleine besser schlafen. Das Gegenteil trifft zu. Gemeinsames Schlafen hat für die Kinder und die Eltern einen immensen Vorteil: Die Kinder fühlen sich nachts nicht alleingelassen! Kinder, die mit ihren Geschwistern schlafen, suchen nur ausnahmsweise und dann zumeist aus einem triftigen Grund, beispielsweise wegen Krankheit, das elterliche Schlafzimmer auf." (S. 232)

"Zwischen 2 und 7 Jahren hat fast die Hälfte der Kinder irgendwann mindestens einmal pro Woche im Laufe eines Jahres oder mehrere Jahre im Elternbett geschlafen. Offensichtlich können diese Kinder nachts nicht allein sein. Dies erstaunt eigentlich nicht, wenn man bedenkt, dass Kinder tagsüber auch nicht allein sein können. Weshalb also sollen sie nachts, wenn sie doch mehrmals aufwachen, dazu fähig sein?" (S. 236)



"Es gibt keinen stichhaltigen Grund, weshalb ein Kind allein schlafen soll, aber gute Gründe dagegen. Dies sollten alle Eltern bedenken, wenn ihr Kind im Elternschlafzimmer erscheint." (S.237)


"Kein Ratschlag kann so gut sein wie die konkreten Erfahrungen, die Eltern mit ihrem Kind machen. Nur über die Erfahrung können Eltern die Individualität ihres Kindes erfassen und lernen, kompetent darauf einzugehen." (S. 259)


Wer Remo Largo nicht kennt, bekommt im Trailer zu seinem Film einen kleinen Eindruck: Remo Largo

©Sibylle Lüpold

März 2024

Die Zeitumstellung

Am 31. März ist es wieder so weit: Wir stellen die Uhren auf Sommerzeit um und verlieren zumindest in dieser Nacht eine Stunde Schlaf. Aus biologischer Sicht ist die Zeitumstellung eine Zumutung für unseren Organismus und sollte dringend abgeschafft sein. Der Grundgedanke, dass dadurch Energie gespart würde, ist schon lange nicht mehr gültig. (1)
Der Chronobiologe Prof. Till Rönneberg ist einer der grossen Kritiker der Zeitumstellung und plädiert dafür, diese abzuschaffen. Dabei ist es jedoch wichtig, dass wir ganz auf die Winterzeit, die unsere "natürliche Zeit" ist, umstellen. (2) Warum?
Durch die Verschiebung unserer Lebensweise während der Sommermonate haben wir morgens weniger Licht und abends mehr. Für unsere innere Uhr und die zirkadian gesteuerten Abläufe im Körper, die auch den Schlaf beeinflussen, wäre viel Licht am Morgen und weniger Licht am Abend sinnvoll. Bei vielen Menschen ist der Schlaf in den Sommermonaten verkürzt und gestört. Der sogenannt "soziale Jetlag", zu dem es dann kommt, hat massive Auswirkungen auf unser Wohlbefinden, unsere Gesundheit und Leistungsfähigkeit.


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Was bedeutet die Umstellung im Frühling für Eltern kleiner Kinder?

Einige Eltern, die unzufrieden sind, weil ihr Kind morgens zu früh wach wird, profitieren jetzt. Die Kinder werden nämlich ab Anfang April abends eine Stunde später müde und schlafen morgens eine Stunde länger.
Für Eltern von Kindern, die abends sehr spät einschlafen, verschlechtert sich die Situation, weil ihre Kinder abends nun noch später müde werden.
Zudem tun sich alle Kinder in den Sommermonaten schwerer, zur gewohnten Zeit zu Bett zu gehen, da es länger hell ist.

Das Verschieben des Schlaf-Wach-Rhythmus

Was können Eltern grundsätzlich tun, wenn sie mit den Schlafenszeiten ihres Kindes unglücklich sind?
Zuerst mal ist es wichtig zu wissen, dass der Schlafbedarf eines Kindes genetisch bedingt ist. Jedes Kind braucht unterschiedlich viel Schlaf. Auch Geschwisterkinder können einen ganz unterschiedlichen Schlafbedarf haben, so dass es durchaus möglich ist, dass das ältere Kind mehr Schlaf braucht als das jüngere.
Im Internet kursieren viele Tabellen, die angeben, wie viele Stunden Schlaf ein Kind in welchem Alter benötigt. Meistens sind nur die Durchschnittswerte angegeben, so dass viele Eltern irritiert sind, weil ihr Kind angeblich zu viel oder zu wenig schlafe. 1001kindernacht® arbeitet mit den Zürcher Perzentilenkurven, deren Bandbreite sehr gross ist. So schlafen manche Kinder nach der Geburt nur 11, andere hingegen ganze 19 Stunden pro Tag. Alles, was in diesem Bereich liegt, ist normal. Ein Kind, das sich gut entwickelt, im Wachzustand zufrieden und an seiner Umgebung interessiert ist, bekommt genug Schlaf – auch wenn es tagsüber mehrere kurze Schläfchen macht und nicht 2 Stunden am Stück schläft, wie vielleicht das Nachbarskind.
Im Verlauf der Kindheit nimmt der Gesamtschlafbedarf langsam ab. Wenn Eltern sich nicht laufend am Kind, sondern an ihrer Vorstellung, wann es schlafen sollte, orientieren, kommt es oft vor, dass es ins Bett gebracht wird, wenn es noch gar nicht müde ist. Kinder sollten aber immer nur so viel Zeit im Bett verbringen, wie sie schlafen können – sonst kann es zu (Ein)Schlafstörungen und Widerstände, zu Bett zu gehen, kommen. (3)
Der Schlafbedarf lässt sich also nicht verlängern, aber der Schlaf-Wach-Rhythmus lässt sich (ca. ab 9 Monaten) verschieben, sollte er sehr ungünstig sein.

A) Was muss ich tun, wenn mein Kind abends zu spät einschläft?

In diesem Fall beginnt die Umstellung am Morgen, indem das Kind früher geweckt wird. Auch der Tagesschlaf muss dann früher angesetzt werden, damit das Kind in der Folge abends früher müde ist.

B) Was muss ich tun, wenn mein Kind morgens zu früh aufwacht?

In diesem Fall beginnt die Umstellung am Abend, indem das Kind später zu Bett gebracht wird. Dadurch schläft es morgens länger. Damit es abends länger durchhält, muss in der Folge auch der Tagesschlaf später angesetzt werden.

Ob Variante A oder B umgesetzt wird: Es lohnt sich, in kleinen Schrittchen zu schieben, also jeden Tag nur 10-15 Minuten in die gewünschte Richtung.
Zudem müssen die Eltern 7-14 Tage Geduld haben, bis sich der Organismus des Kindes umgestellt hat. Es ist gut möglich, dass in den ersten Tagen noch gar kein Effekt feststellbar ist. Wenn Eltern Unterstützung brauchen, lassen sie sich am besten von einer Fachperson beraten.

©Sibylle Lüpold

1) https://www.test.de/Zeitumstellung-Sommerzeit-Winterzeit-das-muessen-Sie-wissen-4828889-0/
2) https://www.test.de/Zeitumstellung-Sommerzeit-Winterzeit-das-muessen-Sie-wissen-4828889-0/#id5531803
3) Jenni O., Benz C.: Schlafstörungen. Pädiatrie up2date 2007. Nr.4. 309-333

Februar 2024

Stressige Einschlafbegleitung, wenn Besuch da ist

Elenas Frage: "Das Einschlafbegleiten von Tim (1 Jahr alt) finde ich eigentlich sehr schön und es klappt auch sehr gut. Ich lege mich mit ihm ins Elternbett und stille ihn. Meistens dauert es eine halbe Stunde, bis er endlich eingeschlafen ist, aber für mich ist das jeweils ein ruhiger Moment, den ich geniesse, da auch ich nach einem hektischen Tag herunterfahren kann. Wenn er eingeschlafen ist, stehe ich in der Regel nochmals auf, um etwas zu erledigen oder mit meinem Mann Zeit im Wohnzimmer zu verbringen.
Was mich aber total stresst, ist, wenn wir Besuch haben und ich dann so lange wegbleibe, weil ich Tim ja in den Schlaf begleiten muss. Ich habe dann immer den Eindruck, die anderen seien irritiert, weil wir Tim nicht einfach hinlegen und alleine in den Schlaf finden lassen können. Meistens dauert es genau an diesen Abenden besonders lange, bis Tim endlich schläft und ab und zu höre ich abschätzige Bemerkungen von unserem Besuch, die mir das Gefühl vermitteln, es total falsch zu machen. Mache ich denn etwas falsch?"

Sibylles Antwort: Elena macht überhaupt nichts falsch! Viele Stillkinder schlafen mit einem Jahr noch sehr gerne an der Brust ein. Es gibt überhaupt keinen Grund, dies zu verändern, wenn es gut klappt und für alle stimmig ist – was bei Elena und Tim ja beides der Fall ist (mehr Infos zum Einschlafstillen siehe Still-Lexikon). Dass dieser Zustand, der im Alltag nicht störend ist, auf einmal zum Problem wird, wenn Besuch da ist, ist verständlich. Aus Sicht von Tim ist aber genau in dem Moment nicht zu erwarten, dass er sich einfach hinlegen lässt oder dass er dann besonders schnell einschläft. Er möchte natürlich genauso einschlafen wie immer und tut sich an dem Abend vermutlich schwerer als sonst, loszulassen, da er vielleicht noch gerne bei den anderen geblieben wäre oder da er Elenas Anspannung spürt. Kleine Kinder benötigen oft dann besonders lange mit Einschlafen, wenn die Begleitperson ungeduldig darauf wartet. Das Kind spürt deren Anspannung und kann diese nicht anders deuten, als dass es eine Gefahr geben muss. Also bleibt es besser wachsam, da ja jeden Moment etwas passieren könnte.

Welche Möglichkeiten hat Elena, ihre unangenehme Situation (oder ihre Einstellung dazu) zu verändern?

1.) Vielleicht muss sie Tim ja gar nicht ins Bett bringen und er schläft im Arm oder an der Brust in Gegenwart des Besuchs ein. Wenn Elena nicht gerne vor den Augen der anderen stillt, kann sie sich etwas abseits in einen abgewandten Sessel setzen und den Gesprächen der anderen trotzdem noch folgen.





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2.) Wenn Tim in Gegenwart der anderen nicht zur Ruhe kommt, dann darf Elena auf jeden Fall warten, bis er wirklich müde ist, auch wenn das an diesem Abend halt etwas später wird. Wenn sie sich dann mit ihm ins Schlafzimmer zurückgezogen hat, ist es wichtig, dass sie sich auf ihre eigenen Emotionen fokussiert. Indem sie ruhig und tief atmet, kann sie sich entspannen und vermittelt Tim nonverbal: «Es ist alles gut! Du kannst loslassen – ich bin da!» Elena muss sich nicht innerlich unter Druck, dass es gerade heute besonders schnell gehen soll, sondern rechnet besser im Vornherein damit, dass es heute eventuell länger dauern wird.

3.) Wenn es für Elena sehr wichtig ist, bei ihrem Besuch bleiben zu können, könnte an diesem Abend auch der Papa die Einschlafbegleitung übernehmen. Wenn er noch kein vertrauter Einschlafbegleiter für Tim ist, könnte das allerdings schwierig werden. Je öfter er diese Aufgabe übernimmt (nicht nur, wenn Besuch da ist), desto besser klappt das sicher. Eventuell akzeptiert Tim als Alternative gut, wenn Papa ihn im Tragetuch (bei einem kurzen Spaziergang) in den Schlaf finden lässt.

4.) Die Situation hat jedoch auch mit Elenas Selbstbewusstsein als Mutter zu tun: Die Frage ist ja, weshalb sie sich durch den Besuch so verunsichern lässt. Es könnte sein, dass dieser gar kein Problem damit hat und sie sich unnötig unter Druck setzt. Am besten spricht sie die Situation an, in dem sie selbstbewusst sagt: "Tim kann am besten einschlafen, wenn ich bei ihm bin und deshalb werde ich Euch nun einen Moment alleine lassen. Ihr könnt ja in der Zwischenzeit vielleicht schon mal (...). Wenn ich zurück bin, essen wir den Nachtisch. Komm Tim, wir sagen Gute Nacht!" Vielleicht sagt der Besuch dann: "Oh, das kennen wir – bei unseren Kindern war das genauso. Stress Dich nicht – wir warten hier auf Dich!" In diesem Fall kann sie Tim ganz entspannt in den Schlaf stillen und muss nicht darüber spekulieren, was die anderen vielleicht denken. Wenn dann doch ein abschätziger Kommentar kommt, könnte sie sagen: "Ich wäre froh, wenn Ihr akzeptiert, dass wir so mit Tim umgehen, wie wir es für richtig halten. Wir waren in einer Schlafberatung und haben uns ausgiebig informiert. Wir finden diesen Weg sowohl für Tim als auch für uns stimmig." Oftmals werden junge Eltern vom Umfeld so lange verunsichert, bis sie selbst innerlich Klar- und Sicherheit gewonnen haben, wie sie es machen wollen. Eltern, die von etwas überzeugt sind, strahlen dies auch aus und werden viel weniger zur Zielscheibe von Kritik oder Verbesserungsvorschlägen.

Viele solcher Dilemmas entstehen dadurch, dass wir zwei Dinge gleichzeitig wollen. Elena möchte Tim so in den Schlaf begleiten, wie er es noch braucht, gleichzeitig möchte sie in den Augen des Besuchs "kompetent" dastehen und vorweisen können, dass ihr Kind problemlos und alleine einschläft. Solche Dilemmas lösen sich automatisch, wenn wir einen der beiden Wünsche loslassen. Entweder kann Elena Tim ab sofort beibringen, ohne sie einzuschlafen, damit sie – wenn Besuch da ist – der gesellschaftlichen Erwartung entspricht oder aber sie übernimmt nicht länger die Verantwortung dafür, was die anderen denken und macht es (selbstbewusst) auf ihre Weise. Da aus meiner Sicht nur diejenigen Eltern wirklich entspannt und glücklich unterwegs sind, die einen individuell stimmigen Weg finden, würde ich persönlich zu Variante 2 tendieren.

©Sibylle Lüpold

Januar 2024 

Wir kommunizieren auch im Schlaf

"Der Mensch kann nicht nicht kommunizieren." Dieser Satz stammt von Paul Watzlawick, dem berühmten Kommunikationsphilosophen. Das heisst, wir kommunizieren ständig, auch wenn wir gerade gar nicht mit jemandem sprechen. Nehmen wir an, wir sitzen in einem Wartezimmer zusammen mit einer uns fremden Person. Diese sitzt ein paar Meter von uns entfernt und wir beide lesen etwas. Obschon wir uns nicht ansehen und schon gar nicht miteinander reden, sind wir im Austausch. Wir nehmen im Augenwinkel wahr, was der andere gerade tut, hören seine Geräusche, nehmen seinen Geruch wahr etc... All das gibt uns Informationen über unser Gegenüber und hat Einfluss auf unser Verhalten, das wiederum genauso wahrgenommen wird. Auch ohne Worte stehen wir jederzeit im Austausch mit unseren Mitmenschen - ob wir wollen oder nicht. Watzlawick hat mit seiner Theorie unser Verständnis über Kommunikation radikal und nachhaltig verändert.

Das heißt konsequenterweise, dass wir sogar im Schlaf miteinander kommunizieren. Selbstverständlich nonverbal, was aber sowieso um die 80% der gesamten Kommunikation ausmacht; nur 20% (oder weniger) sind verbale Verständigung. Wenn zwei schlafende Menschen nachts nebeneinander liegen und scheinbar nichts tun, kommunizieren sie trotzdem auf subtile Weise miteinander.





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Während wir schlafen, ist unser Gehirn nämlich sehr aktiv. Ausser im Tiefschlaf nehmen wir via Sinnesorgane auch schlafend Informationen aus unserer Umgebung auf: Wir fühlen die Schlaffläche, die Decke, die Temperatur, wir hören Geräusche und nehmen bei jedem Atemzug den Geruch um uns herum wahr. Hören wir plötzlich einen ungewohnten Lärm oder fühlen wir, dass die Matratze nass ist, werden wir wach.
Stellen wir uns vor, wir schlafen in einem grossen Raum auf nebeneinander liegenden Matten neben unbekannten Menschen: Die ersten paar Nächte würden wir nicht sehr tief schlafen, da die ungewohnten Geräusche, Bewegungen und Gerüche uns irritieren.
Mit der Zeit gewöhnen sich Menschen an neue "Bettgenossen" und werden in der Regel nicht mehr wach, wenn der andere sich bewegt oder laut atmet.

Neuere Forschung weist darauf hin, dass man mit schlafenden Menschen sogar verbal kommunizieren kann. So konnten schlafende Testpersonen auf sprachliche Stimuli von aussen korrekt antworten. Französische Neurowissenschaftler luden 21 gesunde Probanden in ein Schlaflabor ein. Bevor sie schlafen gingen, machten die Versuchsleiter mit ihnen folgende Übung: Sie sagten ihnen Wörter vor, teils echte und bekannte, teils erfundene und sinnlose. Nach den echten mussten die Probanden dreimal kurz lächeln, nach den erfundenen dreimal kurz die Stirn runzeln. Nun wiederholte man das Ganze, während die Testpersonen schliefen: Einige antworteten auch im Schlaf mit der korrekten Mimik. Da die Probanden mehrmals lächelten und die Stirn runzelten, konnte es sich nicht um zufällige Zuckungen handeln. Auch dass sie wach waren, konnte anhand der elektrischen Hirnaktivität, der Herzfrequenz und des Muskeltonus klar ausgeschlossen werden.
Schlafende sind also keineswegs "bewusstlos" und von der Aussenwelt abgeschirmt. Wir sind sogar in der Lage, im Schlaf Botschaften zu empfangen und zu senden. Diese Erkenntnis ist in Bezug auf das Verständnis von Schlaf und Bewusstsein revolutionär.
Auch in anderen Studien wurde dieses Thema untersucht. Wissenschaftler aus Osnabrück liessen schlafende Testpersonen sogar Matheaufgaben lösen. Die sogenannte Methode des "Interactive Dreaming", also der Austausch zwischen einer träumenden und einer wachen Person, ebnet als vielversprechender Ansatz den Weg für weitere Forschung.

Für uns von 1001kindernacht® bedeuten diese Erkenntnisse vor allem eines: Beziehung findet auch nachts und im Schlaf statt. Es macht einen Unterschied, ob wir nur den Tag oder auch die Nachtstunden miteinander verbringen und im Austausch sind. Für die kindliche Entwicklung ist die Verständigung, die sogar im Schlaf mit den Eltern stattfinden kann und dem Kind vermittelt: "Wir sind da – Du bist in Sicherheit!" besonders in den ersten Jahren von grosser Bedeutung.

©Sibylle Lüpold

Quellen: